Die Romanhandlung von Armageddon Rock setzt zehn
Jahre später ein, als es zu einer weiteren Bluttat kommt. Jamie
Lynch, ehemaliger Promoter und Manager der Band, wird am Jahrestag
von Hobbins' Tod in seinem Haus bestialisch ermordet. Lynch liegt auf
einem alten Plakat der Nazgûl, und im Hintergrund läuft eine Platte
der Band, »Music To Wake The Dead«, während jemand ihm das Herz
aus dem Leib reißt. In dieser oder ähnlicher Form schon gehört,
möchte man meinen, doch weit gefehlt, denn George R.R. Martins Roman
stammt aus dem Jahr 1983 und hat nichts von seiner Faszination
verloren. Zudem entwickelt sich, was anfängt wie ein Krimi oder ein
Psycho-Thriller, schnell zu einem Parforceritt, der nicht nur in die
amerikanische Geschichte der Sechziger und Siebziger Jahre eintaucht,
sondern vor allem knietief in die Musik jener Ära. Ich habe die
Neuausgabe des Berliner Golkonda-Verlags als willkommenen Anlass
genommen, das Buch nach langer Zeit wieder einmal zu lesen und war,
soviel vorweg, nicht weniger begeistert als vor Jahren beim ersten
oder zweiten Lesen.
Im Verlauf der Handlung wird, ähnlich wie in Twin
Peaks, die Suche nach dem Mörder zur Nebensache, und fast von Beginn
an hatte ich das Gefühl, ein zwischen zwei Buchdeckel gepacktes
Rockalbum zu hören, das mich mit jeder weiteren Seite mehr in seinen
Bann schlug. In der bei FanPro erschienenen deutschen Erstausgabe aus
dem Jahr 1986 lautete der Untertitel des Romans passenderweise »Ein
Langspiel-Roman in Stereo«, und für Stephen King ist Armageddon
Rock »der beste Roman über die Popmusik-Kultur der 60er Jahre«
überhaupt.
FanPro-Ausgabe 1986 |
Bei seiner Selbstfindungstour und der Jagd nach
den Hintergründen des offensichtlichen Ritualmordes an Lynch taucht
Blair immer tiefer in die Musikszene und in das Umfeld der Nazgûl
ein, die sich wiedervereint anschicken, einen zweiten Triumphzug zu
starten. Hierbei kommt das phantastische Element zum tragen, das sich
sparsam eingesetzt wie ein unterschwelliger Faden durch den Roman
zieht, als schleichendes Mysterium unheimlicher wirkt als derbe
Effekte und aus Armageddon Rock tatsächlich – auch! – einen
Phantastik- und Horrorroman macht. Denn protegiert werden die Musiker
auf ihrem Weg zu alter Herrlichkeit von dem undurchsichtigen Edan
Morse, einer apokalyptisch angelegten Figur, die übernatürliche
Kräfte heraufbeschwört, um die Nazgûl wieder an die Spitze zu
bringen. Morse wirkt mit Akten blutiger Selbstverstümmelung darauf
hin, Patrick Henry Hobbins auferstehen zu lassen und der vor einer
Dekade gescheiterten Revolution der Gegenkultur mit Hilfe der Nazgûl
doch noch zum Sieg zu verhelfen, indem er Armageddon heraufbeschwört,
die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse. Doch so, wie sie alle
Gefangene der Umstände sind, Sandy Blair ebenso wie die Musiker, ist
es auch der von seinen eigenen Dämonen getriebene Edan Morse. Er,
der scheinbare Strippenzieher, durchschaut die düstere Wahrheit so
wenig wie alle anderen. Unterdessen drängt sich Blair die Frage auf,
wer hier eigentlich Gut und wer Böse ist, was Schwarz und was Weiß.
Als er die Wahrheit zu erkennen glaubt, scheint es
nur einen Ausweg zu geben. Die Geschichte muss sich wiederholen. Der
neue Hobbins darf den Armageddon Rag nicht bis zum Ende singen, wenn
es nicht zur Apokalypse kommen soll. Ein Funken Zweifel jedoch bleibt
und warnt Blair davor, dass alles vielleicht ganz anders ist, als es
zu sein scheint.
In der Tat ist der Roman purer Rock'n'Roll, doch
er ist vor allem eins, nämlich eine extrem spannende Geschichte mit
finsteren Abgründen. Und zudem mit vielen Gefühlen: mit düsteren
Gefühlen der Trauer, herzzerreißenden Gefühlen der Sorge um einen
alten Freund, tröstenden Gefühlen der Hoffnung und der Liebe. Man
beobachtet Sandy Blairs Rücktransformation von einem an sich selbst
zweifelnden und in den Mechanismen des Marktes verankerten Buchautor
zu dem Idealisten, der er einst war. Zugleich demonstriert George
R.R. Martin die Kraft, die Macht und die Magie einer Musik, die etwas
zu sagen hatte, einer Musik, die mit ihrem Herz und ihrer Seele in
der Lage war, die Jugend zu berühren und in den Köpfen etwas
auszulösen. Auch das ist – in meinen Augen jedenfalls – eine
Aufgabe guter und ehrlicher Rockmusik, womit sie diametral dasteht zu
dem ganzen Schmonzes, der einem heute aus dem Radio entgegendudelt,
und zu den sich endlos selbst wiederholenden Sangesklonen in den
Hitlisten.
Martin schreibt wortreich, sehr spannend und sehr
dicht, so dicht, dass ich mich bei mehr als nur einer Szene direkt in
die Handlung hineinversetzt fühlte und den Eindruck hatte, die
Nazgûl vor mir zu stehen zu sehen und ihre Musik, die infernalische
Musik, um die Toten zu wecken, im Ohr hörte. Martin nimmt den Leser
gefangen, ohne ihn bei seiner wilden Fahrt quer durch die Vereinigten
Staaten, bei seinem Road Movie, bei seinem Langspielplatte und
Rockkonzert gewordenen Literaturklassiker wieder loszulassen, ehe
der Leser die Auflösung der Geschichte und den einzigen Ausgang aus
dem apokalyptischen Drama kennt.
In einer Zeit, in der jeder über »Das Lied von
Eis und Feuer« redet und sich »Game of Thrones« anschaut, kann und
will ich George R.R. Martins wirkliches Meisterwerk nur wärmstens
empfehlen – und ein Meisterwerk ist der Armageddon Rock. Ich liebe
dieses Buch, es gehört zu meinen All Time Favourites, und zweifellos
habe ich es nicht zum letzten Mal gelesen.
Golkonda Verlag, Berlin, 2014
Klappenbroschur, ca. 400 Seiten
Euro 16,90
ISBN 978-3-944720-35-7
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