Eine weitere Ausgabe von
EXODUS liegt vor, die
Nummer 34 des Magazins für Science Fiction Stories &
Phantastische Grafik. Auf 112 Seiten im A4-Format präsentieren die
Herausgeber René Moreau und Olaf Kemmler, zu denen sich nun als
dritter im Bunde Fabian Tomaschek gesellt hat, 11 Stories, die
ausnahmslos auf die eine oder andere Art illustriert sind, dazu eine
Galerie und eine Reihe von Karikaturen.
In
#WeAreMedusa taucht
Tino Falke
einerseits in die Welt des Internetzes und seiner User ein und
andererseits in die griechische Mythologie, mit er sich auszukennen
scheint. Nette Verquickung von zwei Dingen, die scheinbar so gar
nichts miteinander zu tun haben. Im Netz formiert sich Widerstand
gegen die Willkür der Unsterblichen und Unterstützung für deren
Opfer. Eins von letzteren ist die Protagonistin der ziemlich kurzen
Geschichte, vergewaltigt von Poseidon und in Medusa verwandelt von
Athene. Es geschieht, was man tatsächlich ständig in sozialen
Netzwerken beobachten kann: die Unterstützung für das Opfer ruft
schon bald eine Gegenbewegung ins Leben, die dem Opfer zumindest eine
Mitschuld vorwirft. Nicht schlüssig erschließt sich mir allerdings,
ob die Götter hier tatsächlich in der Welt der Menschen aktiv
werden, oder ob sich das ganze Szenario letzten Endes nicht lediglich
unter Nicks wie dem von Medusa in eben jenen sozialen Netzwerken
abspielt. So lässt mich die kurze Story ein wenig ratlos zurück.
Hans Jürgen Kuglers Ich-Erzähler erwacht
eines Morgens mitten im Sommer in seinem Bett, und es ist eiskalt. Er
muss feststellen, dass sich die Bettdecke kaum bewegen lässt, dann
wird er mit weiteren merkwürdigen Phänomenen konfrontiert. Er
erkennt, dass etwas mit der Zeit nicht stimmt. Alles um ihn herum
scheint stillzustehen, aber es bewegt sich doch, wenn auch kaum
merklich. Entweder hat sich sein eigener Zeitablauf extrem
beschleunigt oder jener der ihn umgebenden Welt extrem verlangsamt.
Das schildert der Autor in seiner Geschichte Alles zu seiner Zeit
ausführlich und mit Liebe zum Detail. Nach einigen Erkundungen in
der Stadt verkehrt sich das Szenario ins Gegenteil. Alles um den
Protagonisten herum gerät in rasende Schnelligkeit, sodass er kaum
noch mehr als huschende Schemen wahrnimmt, bevor schließlich alles
wieder normal wird. Auf das Ende der Story zugehend, fragte ich mich,
wohin die Handlung wohl führen soll. Ich fürchtete ein offenes
Ende, doch ein kluger Abschluss aus der Sicht eines Wissenschaftlers
liefert eine nachvollziehbare, gar nicht so abwegige Erklärung.
Clever gestrickt.
Ein Gespenst als Einstieg in eine Geschichte, die
sich um den Krieg dreht. Der Aufbau von Die Stadt der XY
erinnert über weite Strecken an ein Kammerspiel, denn die Story
spielt überwiegend in der Wohnung eines jungen Paares. Durch dessen
Interaktion und Gespräche erfährt der Leser, dass die beiden ihren
alten räumlichen Lebensmittelpunkt verlassen haben und mit ihrer
kleinen Tochter an diesen neuen Ort umgezogen sind, in eine Stadt,
die in erobertem Territorium liegt. Überlebende des Feindes, dessen
Name nicht ausgesprochen werden darf und der daher nur XY genannt
wird, gibt es hier nicht, allerdings auch keine Schäden und
Zerstörungen, wie ein Krieg sie in verschieden großem Umfang mit
sich bringt. Denn es wurden keine Atombomben eingesetzt, sondern von
Siegerseite Nanowaffen, die lediglich töten, aber keine Zerstörungen
anrichten. Das wird als großer Fortschritt hervorgetan – wie das
bei Siegern und Siegermächten nach Kriegen nun mal häufig der Fall
ist. Es wurde halt nur getan, was getan werden musste, um den hier
nicht näher beschriebenen Feind vollständig zu besiegen. Mir
scheint, Dirk Alt griff bei seiner Idee das Konzept der
Neutronenbombe auf. Düster und bedrückend kommt das rüber, zumal
es sich bei dem eingangs erwähnten Gespenst um die Leiche eines
kleinen Mädchens handelt, das von den Reinigungstruppen zu entsorgen
vergessen wurde. Schön nachdenkliche Story.
Rolf Krohns Geschichte führt in den
Weltraum hinaus, und zwar ins heimische Sonnensystem, das zum
Handlungszeitpunkt der Geschichte weitgehend erkundet, wenn auch
nicht besiedelt ist, und keine großen Überraschungen mehr
bereithält. Zumindest nehmen die Menschen das an. Im Mittelpunkt der
Handlung steht die kleine Besatzung eines Patrouillenschiffs, das
Meteoriten wegräumt, die auf ihren Bahnen theoretisch einmal der
Erde gefährlich werden könnten. Diesmal nehmen sie sich einen
besonders dicken Brocken vor, der durch künstlich herbeigeführte
Kursmanipulation zum Mars bugsiert und dort zu einem kontrollierten
Absturz gebracht werden soll. Als die Raumfahrer aussteigen, um die
erforderliche Technik auf dem fliegenden Felsbrocken zu installieren,
erleben sie jedoch eine gewaltige Überraschung, entdecken sie doch
ein nicht von der Erde stammendes Metallobjekt, der von ihnen selbst
eingesetzten Technik durchaus ähnlich. Offenbar sitzen irgendwo im
Sonnensystem – in der Glut der Venus, tief in den Marswüsten, in
den Gashöllen von Jupiter oder Saturn oder wo auch immer sonst –
andere Intelligenzen, die vergleichbare Methoden der
Meteoritenumlenkung anwenden und die ihre Existenz durch die
Maßnahmen der Menschheit bedroht sehen. Vielleicht war deshalb sogar
beabsichtigt, den dicken Brocken mit der Erde kollidieren zu lassen.
Man weiß es nicht. Die bislang unbemerkte Gefahr im eigenen
Vorgarten, so etwas mag ich. Ein wenig fühlte ich mich bei den im
Dunkeln bleibenden Fremden in Der Asteroid sogar an die Frogs
aus Raumpatrouille erinnert.
Humanoid experiment entführt die Leser
ebenfalls ins Weltall. Ein junges Wissenschaftlerpaar fliegt in
Kryostase in den Asteroidengürtel. Rob und Eva, so die Namen der
beiden, sollen dort Probebohrungen nach auf der Erde dringend
benötigten Rohstoffen durchführen. Die Wochen vergehen, die
Wissenschaftler werden fündig und beginnen sich im Zuge der
eintönigen Routine Fragen zu stellen. Dann fällt ein Bohrer aus,
und bei dem Versuch, ihn zu reparieren, kommt es zu einem tödlichen
Unfall. Rob stirbt. Beziehungsweise er wird zerstört, denn Eva muss
eine schockierende Entdeckung machen, die auch ihre eigene Existenz
in Frage stellt. In ihrer Geschichte greift Jacqueline Montemurri
ein klassisches Topic der Science Fiction und ein Kernthema
beispielsweise Philip K. Dicks auf: Das Erkennen der Wirklichkeit
hinter dem scheinbar Offensichtlichen sowie die Frage, wo das
Menschsein beginnt. Die Idee ist sicherlich nicht neu, sie wurde eher
schon häufig beschrieben – aber das ist ja wohl bei fast allem,
was wir heute noch schreiben, der Fall. Die Autorin variiert die Idee
in einer sehr gefälligen, atmosphärisch dichten Story mit
tragischem Ende.
Wenn Wissenschaftler Experimente durchführen,
dann tun sie das zuweilen, ohne sich um die möglichen Folgen zu
scheren. Oder sie sehen generös darüber hinweg, so wie in Victor
Bodens Schilderung einer Gruppe von Physikern, die ein Proton in
die Vergangenheit schicken und davon ausgehen, dass dabei entweder
ein Paralleluniversum entsteht oder sich unser bestehendes Universum
verändert. Nur, wie die Veränderung dann mitbekommen? Das gelingt
ihnen nämlich nicht, obwohl genau das passiert. So durchleben die
Figuren in Vielleicht ein andermal skurril anmutende Szenen in
immer neuen Beziehungen zueinander, ohne sich dessen bewusst zu sein,
dass da auf einmal etwas ganz und gar nicht mehr stimmt. Schöne
Geschichte, auch und gerade wegen des humorigen Tons.
Vor Probleme stellt mich Thomas Franke mit
seinem Dialog zwischen Steinwälzer und Erbsenzähler. Etwas
experimentell kommt mir der Zweiseiter vor, auch ein wenig skurril.
Dafür ist Thomas ja bekannt. Geht es um Richtlinien und Gesetze,
Erlässe und Vorschriften? Ist es Der Plan, die Menschen durch
vollständig verordnete Gesundung in den Tod zu überantworten? Das
hätte für mich dann etwas von feiner Kritik an so mancher
Grünen-Doktrin. Vielleicht interpretiere ich aber auch in eine
völlig falsche Richtung.
Die längste Geschichte stammt von Andreas
Eschbach. Ist es dem Namen des Bestsellerautors geschuldet, wenn
ich schreibe, dass mir Acapulco! Acapulco! in der vorliegenden
Ausgabe am besten gefallen hat? Nein, denn es trifft zu. Der Autor
beschreibt eine auf den ersten Blick im besten positiven Sinne
utopische Gesellschaft, in der den Menschen keinerlei Verpflichtungen
mehr auferlegt sind. Sie müssen nicht arbeiten, geben sich ihren
Vergnügungen hin und bekommen alles, was sie benötigen, von
Robotern geliefert. Sie altern nicht einmal, der Tod ist ein ihnen
fremd gewordenes Konzept. Doch wo und von wem wird eigentlich alles,
was sie zum Leben benötigen, produziert? Woher kommt es? Der Autor
verrät es einer in der Story neugierig werdenden Figur, doch zu viel
Neugier kann nicht nur das plötzliche Ende der scheinbaren Idylle
bedeuten, sondern das Ende sämtlichen menschlichen Lebens. Fies und
gemein, das mag ich, und deshalb mein Highlight im Heft.
Ein schönes Literaturstückchen kommt ganz zum
Schluss. Obwohl sich Feenland nach Fantasy anhört, ist es
eine lupenreine SF-Geschichte, und zwar eine, die den Leser trifft.
Jason hat Ivory gerettet – wovor auch immer – und flieht mit ihr
aus dem Raumbereich der Föderation. Früh wird durch Andeutungen
klar, dass etwas sehr Schlimmes geschehen sein muss. Was Ivory als
Mädchen angetan wurde, verdeutlicht Frank W. Haubold in einer
düsteren Rückblende, in der die unmenschlichsten Anwendungen von
Kloning und Bewusstseinstransfer beschrieben werden und in der der
Autor aufzeigt, zu was Menschen fähig sind. Der Intrige zwischen
Militär und Wirtschaft hätte es da nicht einmal bedurft, aber sie
setzt noch eins drauf. Die düsterste Geschichte im Heft. Auch sehr
stark.
EXODUS 34 ist wieder eine schöne und
abwechslungsreiche Storysammlung. Davon und an SF-Magazinen jeglicher
Couleur gibt es in Deutschland ja leider nicht allzu viele. Gut
gefällt mir auch, dass es zu allen Geschichten Kurzbios der Autoren
und Grafiker gibt. Viele von denen sind mir nämlich unbekannt. Bei
den Illustratoren sticht für mich eindeutig Michael Vogt heraus.
Seine Zeichnungen haben mir auf Anhieb durch ihren comichaften Stil
sehr gut gefallen. Ein spezieller Dank an die Redaktion dafür, dass
sie bei „Stories“ bleibt und sich von der eingedeutschten
Schreibweise „Storys“ fernhält.