Das Motto des Abends, oben in der Überschrift zu lesen, brachte die Veranstaltung vorab auf den Punkt. Denn Wolfgang Niedecken ließ jeder gelesenen Passage aus seiner Autobiographie "Für 'ne Moment" ein Lied folgen, das sich inhaltlich mit dem zuvor gelesenen Text beschäftigte. Oder umgekehrt. Eigentlich hätte das Konzert im November vergangenen Jahres stattfinden sollen, doch dann kam der Schlaganfall, und nicht nur dieser Auftritt mußte verschoben werden. Oder vielleicht ganz abgesagt, das stand damals noch nicht fest. Wer konnte schon sagen, ob Wolfgang jemals wieder auf die Bühne zurückkehren würde. Zum Glück ist das inzwischen gelungen, und am gestrigen Abend mit Bravour. Meinem absoluten Musikidol geht es wieder gut - zumindest soweit man das aus der Ferne beurteilen kann.
Es gibt sogar einen zusätzlichen Auftritt in Köln. Wolfgang steht zwei Abende hintereinander im Gloria-Theater auf der Bühne. Wie ich am Eingang las, waren beide Veranstaltungen ausverkauft. Ich schätzte, daß rund 400 Besucher im Gloria Platz fanden, als ich mich eine halbe Stunde vor Beginn einfand. Die im Vergleich zu BAP-Konzerten überschaubare Zuschauerzahl schuf eine wesentlich intimere Atmosphäre, zumal der Saal komplett bestuhlt war. Ausschließlich Sitzplätze? Bei einem BAP-Konzert wäre das undenkbar. Doch war dies kein Rockkonzert, sondern eine Lesung mit musikalischer Begleitung.
Zunächst las Wolfgang eine Passage aus seinem Buch, die aus der Zeit vor BAP stammte. Oder zumindest aus deren frühester Anfangszeit. Längst wird ja 1976 als das Gründungsjahr der Kölner Mundartband genannt, obwohl das erste Album "BAP rockt andere kölsche Leeder" erst 1979 erschien. Denn 1976 entstand das erste Stück, das erst 1980 auf dem zweiten Album "Affjetaut" erscheinen sollte, nämlich Helfe kann dir keiner. Er schilderte, wie aus seinem Liebeskummer aus Neil Youngs Cowgirl in the Sand eben Helfe kann dir keiner wurde. Er intonierte Cowgirl, spielte den Anfang des youngschen Originals und ging dann nahtlos in seine kölsche Version über. Ohne Unterstützung seiner Band oder irgendwelcher Gastmusiker trug er das Stück auf einer akustischen Gitarre und mit Mundharmonika vor, was für den Rest des Abends bei allen Liedern so bleiben sollte.
Dann las Wolfgang seine Erinnerungen der Nachkriegszeit in den Trümmern der Südstadt vor. Er erinnerte an die Ritterburg Severinstor, als die er die Vringspooz zu seiner Kinderzeit sah, an die stetig präsenten Gerüche von der nebenan liegenden Schokoladenfabrik Stollwerck, von der damals noch auf der Severinstraße beheimateten Reissdorf-Brauerei und des nahen Rheins. Über das Kennenlernen und die Beziehung seiner Eltern, ihre mögliche Vernunftehe, der er entstammt, und den kleinen Laden in der Severinstraße mit dem spießbürgerlichen Chippendale Desch seiner Mutter, mit dem er nicht warm werden konnte, der aber heute gehütet und gepflegt in seiner Wohnung steht. Folgerichtig kam Chippendale Desch vom "Aff und zo"-Album.
Weiter ging es mit Schlaglichtern aus seiner Internatszeit in Rheinbach. Die Schilderung über die militärische Strenge, die permanenten Drangsalierungen und den Mißbrauch durch Pater L. waren bedrückend, vielleicht aber auch ein spätes Stück Selbsttherapie. Passend dazu folgte Nie met Algebra. Ohnehin ein recht düsterer Parforceritt durch die Nachkriegsgeneration, klang das Stück in der dargebotenen akustischen Interpretation noch bedrohlicher als in der Album-Variante.
Anschließend kam Wolfgang auf seine Anfänge als Musiker zu sprechen. Auf die Auftritte in Jugendheimen, Turnhallen und Gaststätten in und um Rheinbach. Darauf, wie er auf dem Schulhof den elektrifizierten Bob Dylan kennenlernte und Like a Rolling Stone wie ein Urknall in sein Leben donnerte. Wie sein älterer Bruder ihm die drei Akkorde, die er selbst beherrschte, beibrachte. Jene drei Akkorde, mit denen er ganze Partys bestritt, wofür Wolfgang ihn als Genie bezeichnete. Und prompt gab er kleine Kostproben dessen. Er spielte Wir lagen vor Madagaskar an, Ene Besuch im Zoo und schließlich Es war einmal ein treuer Husar. Das bis dahin recht steife Publikum, wie ich fand, sang beim Husar kräftig mit. Uraltes Kölner Liedgut, na klar. Was Wolfgang prompt zu der Bemerkung verleitete: "Wußte ich es doch. Alles endet in Köln im Karneval." Sofort gab es Dedicated Follower of Fashion von den Kinks.
Beinahe schon humoristisch kamen die ersten Pannen bei den ersten BAP-Auftritten rüber, als man eine volle Aula leer spielte, weil man in maßloser Selbstüberschätzung mit dem bescheidenen Equipment nicht der Hallengröße gerecht werden konnte. Man sah das Ende von BAP gekommen, kaum daß sich die Band auf den Weg gemacht hatte. Dank Bernd Odenthal ging es weiter, mit neuem Elan. Und 1979 mit dem ersten Album. Von dem spielte Wolfgang das sarkastische Sinnflut, was mich besonders freute. Das Stück hatte ich live seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen und gehört.
Gleich darauf wurde es wieder inhaltsschwerer, als der nächste Teil der Lesung sich mit der Entfremdung zwischen Niedecken und seinem Vater beschäftigte. Das war zu Zeiten des zweiten Albums, als sich Vater und Sohn kaum noch etwas zu sagen hatten. Dann starb sein Vater, und in der Nachbetrachtung konnte Wolfgang ihn auf einmal ernst nehmen. Das äußerst zwiespältige Verhältnis verarbeitete er in Verdamp lang her, dem bis heute größen BAP-Hit, der auch bei keinem Konzert der Kölsch-Rocker fehlen darf. Zum Glück, sage ich nur. Mir war klar, daß der Hit nun gespielt werden würde, und das traf zu. Bei Verdamp lang her kommen mir immer wieder die Tränen, egal in welcher Version es vorgtragen wird, akustisch oder elektrisch. Bei diesem Lied, so oft ich es auch schon live mitverfolgt habe, bin ich jedesmal aufs Neue hin- und hergerissen zwischen Andacht und Euphorie. Bei diesem Auftritt habe ich es wohl erstmals erlebt, daß das Publikum nicht mitsang, sondern stilll lauschte. Die gesetzte akustische Fassung verinnerlichte, daß es sich im Grunde nicht um einen Partykracher handelt, sondern um ein nachdenkliches Stück mit tendenziell traurigem Inhalt. Wahrscheinlich kommt es in dieser Version Wolfgang Niedeckens ursprünglicher Intention wesentlich näher als die Rocknummer und Mitsinghymne, die durch Klaus Heusers großartigen Rock-Lick entstanden ist.
Nachdem annähernd zwei Stunden vergangen waren, verneigte sich die kölsche Ikone und bedankte sich. Diejenigen Zuschauer, die dachten, der Auftritt sei vorbei, waren vermutlich noch nie bei einem BAP-Konzert. Wolfgang kündigte nur eine kurze Pause an, und tatsächlich ging es nach einer Viertelstunde weiter im Programm.
Er kam zurück auf die Bühne mit literarischen Impressionen von der Schlagzeiten-Tour, mit seinem ersten Soloalbum im Gepäck und seiner ersten Tour mit einer anderen Begleitband als BAP, nämlich mit den Complizen. Die Anekdoten aus den Hotels, in denen die Complizen, teilweise zusammen mit den Toten Hosen, logierten, und die Geschichte um den knochigen Kuhkopf, der nicht durch die Flughafenkontrolle wollte, waren herrlich. Das fand das ganze Publikum. Ich habe Tränen gelacht. Passend dazu spielte Wolfgang Maat et joot.
Als nächstes war eine Buchpassage dran, die seine Zusammenarbeit mit Trude Herr und Thommy Engel bei der Produktion von Niemals geht man so ganz schildert. Seine Begeisterung beim Einspielen des Lieds, in Partylaune wohlgemerkt. Sein Entsetzen, als er zum ersten Mal das Ergebnis hörte und vehement vor der Veröffentlichung zurückschreckte. Die Neutextung und Trudes Freude daraufhin. Bei der Lesung war seine Hochachtung vor Trude Herr unüberhörbar. Weiter ging es mit den Wurzeln seiner Zusammenarbeit mit Wim Wenders, ihrem Kennenlernen nämlich, und dem, was zehn Jahre später daraus erwachsen sollte. Das war Wenders' Kinofilm über BAP, "Vill passiert". Passend dazu folgte Vill passiert sickher, Niedeckens kölsche Version von Dylans My Back Pages, halb auf Kölsch und zur anderen Hälfte musikalisch Dylans Originaltext zitierend.
Anschließend wieder Lesung. Der Bürgerkrieg in Uganda und die Wanderer der Nacht. Jene Kinder also, die abends vor den Rebellen in das vom Militär gesicherte Gulu fliehen, um nicht nachts von den Rebellen entführt und für deren Zwecke mißbraucht zu werden. In diesem Zusammenhang muß man wissen, daß sich Wolfgang seit Jahren für ehemalige Kindersoldaten in Uganda und anderen Gebieten Afrikas einsetzt, als Sonderbotschafter der Hilfsorganisation Gemeinsam für Afrika tätig ist, bei der Kinderhilfsorganisation World Vision und dem Hilfsprogramm Rebound. Beeindruckend unterlegt wurde das durch sein Lied Noh Gulu.
Die nächste Lesepassage gefiel mir besonders gut und ließ mich schmunzeln. Bei allem Klüngel bin ich nun mal Karnevalist. Nicht Sitzungs- sondern Straßenkarneval ist allerdings mein Ding, wohlgemerkt. Wolfgang las von seiner Annäherung an den Karneval, dem er dreißig Jahre lang distanziert bis ablehnend gegenüber gestanden hatte. Doch alles relativiert sich irgendwann, in diesem Fall ausgelöst durch Herrn Kuckelkorn, den Zugleiter des Festkomitees Kölner Karneval, der dafür sorgte, daß wieder mehr Schärfe und Satire in den Kölner Karneval einzog. Nit für Kooche? Dreißig Jahre noch dem Antikarnevalssong auf "Vun drinne noh drusse" trifft das für den ehemaligen Karnevalsgegner Niedecken nicht mehr zu. Zumindest ein bißchen hat er seinen Frieden mit dem Kölner Karneval gemacht. Er zitierte sogar Unsere Stammbaum von den Bläck Fööss, wichtiger Bestandteil der Integrationsdebatte. Die Bläck Fööss, so erklärte er, haben BAP erst möglich gemacht. Wenn ich zurückdenke, glaube ich mich erinnern zu können, daß ich die Fööss tatsächlich schon gehört habe, bevor es BAP gab. Bezeichnend war seine Aussage vor dem Lied, das folgen sollte: "Beim nächsten Stück ist das Schunkelverbot ausnahmsweise aufgehoben." Mir war klar, was folgen würde. Verjess Babylon. Ich mag dieses Stück vom aktuellen Album sehr, in dem es darum geht, wie der Herrgott am siebten Tag der Schöpfung den Menschen ihre zahlreichen Sprachen bescherte - und wieso wir hier ausgerechnet Kölsch sprechen.
Im letzten Lesepart ging es um den Rhein, der seit Jahrzehnten in Wolfgangs Texten vorkommt. Kein Wunder, wenn man hier am Strom lebt, der allgegenwärtig ist. Mir selbst geht es ähnlich, auch für mich ist der Rhein unübersehbarer Bestandteil meines täglichen Lebens, an dem ich viel und häufig entlang wandere. Dazu las Niedecken über die Autobahnen, auf denen BAP schon so lange auf der Durchreise ist. Ein wenig schwermütig erschien der Rückblick auf dreieinhalb Jahrzehnte BAP, aber auch glücklich, weil ihm all die guten Momente während dieser Zeit keiner mehr nehmen kann. Musikalisch umgesetzt wurde das schließlich in Noh all denne Johre, das am Ende wieder überging in den Refrain von Cowgirl in the Sand. Der Kreis schloß sich.
Das Publikum erhob sich applaudierend von seinen Plätzen, und als Zugabe gab es Für 'ne Moment, Wolfgangs Liebeserklärung an die kölsche Sprache und zugleich der Songtitel, dem die Autobiographie ihren Namen entliehen hat. Dann war Schluß, nach rund dreieinhalb äußerst unterhaltsamen und bewegenden Stunden.
Festzustellen ist, daß viele Stücke in ihrer abgespeckten akustischen Version wesentlich intensiver und eindringlicher rüberkamen als in den Rockvarianten von BAP. Das gilt besonders für inhaltlich eher düstere Songs wie Noh Gulu oder Nie met Algebra. Der gestrige Auftritt meines Idols hat mich begeistert. Rein akustisch und mit Mundharmonika ist Wolfgang Niedecken als Singer/Songwriter heute vielleicht näher dran an wiederum seinem Idol Bob Dylan als je zuvor. Er ist ebenso sehr Dichter und Literat wie Musiker, und er ist gelöst und mit sich im Reinen, obwohl er sich zuweilen immer noch irgendwo zwischen Start und Ziel sieht.
Auf der Bühne stand am gestrigen Abend ein lockerer und aufgeräumter Mann. Ich habe es genossen. Wird Zeit, daß ich "Für 'ne Moment" endlich lese. Ich fiebere schon dem nächsten Auftritt entgegen, bei dem ich zugegen sein werde. Der findet am 1. September statt, auf der Loreley und mit der ganzen Firma BAP. Dort geben sie sich 30 Jahre nach dem umjubelten Rockpalast-Auftritt noch einmal die Ehre.
Joot jemacht, Achim.
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