Die Weltmeisterschaft kostet viel Zeit. Bisher habe ich mir alle Spiele angeschaut. Das geht zu Lasten anderer Dinge. Meine täglichen Spaziergänge müssen derzeit weitgehend pausieren. Nach dem Sieg Kolumbiens gegen die Elfenbeinküste und vor der Begegnung zwischen Uruguay und England zog es mich trotzdem raus an die frische Luft. Nach zehn Stunden am Schreibtisch wäre mir sonst die Decke auf den Kopf gefallen. Der Volksgarten, mein Lieblingsziel, liegt nur wenige Fußminuten entfernt.
Wie üblich spazierte ich um den Weiher herum und ließ mich auf der Parkbank nieder, die seit Jahren meine Anlaufstelle ist, um mich am Wasser niederzulassen und abzuschalten. Ich kam mir vor wie im Herbst. Es ist kühl im Volksgarten, und über den Weiher weht ein scharfer Wind. Ich war froh, eine Jacke dabei zu haben. Wo sich sonst die Sonnenanbeter tummeln, waren nur wenige andere Spaziergänger unterwegs. Ganz allein war ich dennoch nicht. Ein Schwan besuchte mich in der Hoffnung, etwas zu fressen zu bekommen, und am Ufer tummelte sich eine Ente mit einem Schwarm Küken.
Ein wenig abseits steht eine einzelne Laterne. Unter der habe ich sogar im Winter schon gesessen und in ihrem Licht gelesen. Jetzt klebt ein Zettel daran: Laterne außer Betrieb. Ich konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln. Eine Notiz anzupappen ist natürlich einfacher, als das Leuchtmittel in fünf Metern Höhe auszuwechseln. Eigentlich ein Armutszeugnis für die zuständige Behörde, welche auch immer das sein mag. Ich bin gespannt, wie lange die Stadt braucht, um dieses logistische Problem zu lösen.
Vergeblich wartete ich darauf, daß Radir vorbeikommt. Radir ist ein Kurde türkischer Herkunft, den ich vor etwa zwei Jahren an gleicher Stelle kennengelernt habe. Wie ich fand er sich zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter dort ein. Anfangs saßen wir auf zwei Bänken nebeneinander, grüßten und verabschiedeten uns. Dann kamen wir ins Gespräch. So erfuhr ich einiges über ihn. Er ist Mitte Sechzig, seit über dreißig Jahren in Deutschland und nach der ganzen Zeit als Arbeiter jetzt in Rente. Er erzählte mir über seine Familie, seine drei erwachsenen, in Köln lebenden Söhne und vieles mehr. Meistens erzählte er, und ich hörte zu. Radir plaudert gern, ohne dabei aufdringlich zu sein oder zu nerven.
Und er liebt die Tiere am und im Weiher. Die Enten, Sumpfhühner, Schwäne und Gänse, die Schildkröten und Fische. Stets hatte er Brot dabei, um das Federvieh zu füttern. Vor einem guten halben Jahr saß er betrübt da, als ich vorbeischaute. Er war beim Füttern erwischt worden und hatte von patrouillierenden Ordnungskräften eine saftige Geldstrafe aufgebrummt bekommen. Denn die Tierfütterung dort ist verboten.
Der Hintergrund ist allerdings, kein Futter in den Weiher zu werfen, weil sich in dem stehenden Gewässer sonst Algen bilden. Radir fütterte die Tiere jedoch am Ufer. Sie kannten ihn und kamen zu ihm. Das freute ihn und war so etwas wie ein kleines Quantum Lebenselixier. Als umso schmerzhafter empfand er die Bestrafung seitens der übereifrigen Behörden. Er kam dann seltener, und wir sahen uns nicht mehr so oft wie zuvor.
Nun sind wir uns schon länger nicht mehr begegnet. Auch heute war er nicht im Volksgarten. Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich würde mich freuen, ihm demnächst wieder am Wasser auf "unserer" Bank zu begegnen.
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